Ungarn / Rumänien









August 1991. Ich studiere mittlerweile seit zwei Jahren in Rom und habe einige Freunde gewonnen, die in Ungarn und Rumänien zuhause sind. Sie zu besuchen ist der erste Grund für diese Tour. Der zweite: das sagenumwobene Transsilvanien, die Heimat des Grafen Dracula. Das klingt nach Abenteuer! Also mache ich mich auf den Weg - gemeinsam mit Alex.




Unsere Tour besteht ausnahmsweise auch mal aus Auto- und Bahnetappen. Warum? Dazu später. In rot die Strecke mit dem Fahrrad. Von Sopron über den Balaton nach Szeged, einmal quer durch die ungarische Puszta. Dann nach Rumänien hinein: nach Alba Iulia im Herzen Transsilvaniens und Morareni am Fuß der Ostkarpaten. Ein kurzes Stück bei Oradea und schließlich von Budapest zurück nach Sopron. Strecke mit dem Rad: 1.148 km. Höhenmeter: ca. 4.200 m.





Gerade mal 70 Kilometer südlich von Wien gelegen: Sopron (Ödenburg). Die auf römischen Fundamenten errichtete Stadt hat noch viel historische Bausubstanz. Vorne die sog. "Dreifaltigkeitssäule", eine Pestsäule aus dem Jahr 1701. Hinten das Wahrzeichen der Stadt: der im 13. Jh. erbaute und 1676 barockisierte "Feuerturm".




In Sopron wartet bereits mein erster Studienfreund auf uns: György. In der Mitte Alex und rechts ich (ja, so viele Haare hatte ich mal auf den Kopf!). Gastfreundschaft wird in Ungarn groß geschrieben. Essen mindestens ebenso groß!





Gut gestärkt geht's am nächsten Tag aufs Rad. Am Straßenrand immer wieder Ziehbrunnen. Die Puszta ist eine Trockensteppe, da liegt der Grundwasserspiegel tief.









Nein, das ist nicht der Bahnhof von Hódmezővásárhelykutasipuszta - auch wenn die Szene sehr an den Film "Ich denke oft an Piroschka" erinnert. Die Ortschaften an unserer Strecke haben wesentlich einfachere Namen: Szolgagyőrerdésház, Ostffyasszonyfa, Kemenesmihályfa ... 










Unser erster Zeltplatz. Eine Familie hat uns ihren Garten angeboten. Wie wir uns verständigen? Nun, wir haben ungarisch gelernt: "Németországból jővünk, biciklitúrán vagyunk. Megengedné-e, hogy egy éiszakára itt sátorozzunk?" (Wir kommen aus Deutschland und sind auf einer Radtour. Können wir wohl für eine Nacht hier zelten?). Mehr braucht es nicht. Alles andere geht mit Händen und Füßen.




Wir sind am Balaton (Plattensee), dem größten Binnensee Mitteleuropas. Genauer: auf der Halbinsel Tihany, die den See hoch überragt. Eine Fähre bringt uns ans andere Ufer.




Da sind wir bereits auf der anderen Seite. Im Hintergrund die im Jahr 1055 gegründete Benediktinerabtei von Tihany mit ihrer mächtigen Abteikirche. Der weiße Lappen an meinem Lenker dient mir übrigens als Schweißtuch - bei 35 Grad Celsius im Schatten recht gut zu gebrauchen.



Soltvadkert. Hier ist Studienfreund Sandor zuhause. Leider macht er gerade einen Sprachkurs in London. Aber er hat uns gebeten, doch unbedingt bei seinen Eltern vorbeizuschauen ...



Nur vorbeischauen geht natürlich nicht. Wir müssen über Nacht bleiben und wieder ganz viel essen. Hier sind wir gerade beim Frühstück und begrüßen den neuen Tag mit einem Schnaps. Das macht man hier so und hat dafür sogar einen eigenen Trinkspruch: "Pálinkás jó reggelt kívánok e háznak!" (Dem ganzen Haus einen guten Morgen mit Schnaps!).





Ungarisches Stillleben: Ziehbrunnen, Storchennest und vor allem Paprika! Den gibt es nicht nur in Hülle und Fülle, sondern auch in den verschiedensten Farben und Formen: Spitzpaprika, Gewürzpaprika, Apfelpaprika, Kirschpaprika, Tomatenpaprika ... Morgens, mittags, abends, nachts: Paprika!





Wir haben Szeged erreicht, die Heimat des Szegediner Gulaschs und der Szegediner Freilichtspiele. Die finden seit 1931 in jedem Sommer auf dem Domplatz statt und ziehen Tausende von Zuschauern an. Das Programm umfasst Konzerte, Opern und Balettaufführungen.




Arad. Die erste Stadt in Rumänien. Verfallene Plattenbauten, stinkende Zweitaktmotoren, kilometerlange Schlangen vor den wenigen Tankstellen, die noch über Benzin verfügen: das sind unsere ersten Eindrücke. Die gewaltsame Entmachtung des Diktators Ceaușescu ist gerade mal anderthalb Jahre her und das Land leidet unter bitterer Armut.




Auf dem Marktplatz wird um das wenige Gemüse gefeilscht, das es noch gibt. Wir sind hier, um Geld zu tauschen - schwarz. Denn der offizielle Wechselkurs hat nun rein gar nichts mit der realen Wirtschaft zu tun. 11.000 Lei für 100 D-Mark. Der Deal ist binnen weniger Minuten gemacht, und wir ziehen mit einem etwa 5 cm dicken Geldbündel ab (von dem wir übrigens am Ende das Meiste verschenken).





Einfacher werden nun auch unsere Lagerplätze. Hier durften wir unser Zelt mal wieder in einem Garten aufschlagen. Auch wenn wir nun rumänisches Geld haben: es ist gar nicht so einfach, etwas Essbares zu finden. Abgelaufene Konservendosen sind noch am ehesten zu bekommen. Für Brot und Gemüse müssen wir uns in lange Schlangen einreihen.



Hier haben wir großes Glück gehabt. Ob wir wohl ein paar Pflaumen von einem Baum pflücken dürften, haben wir gefragt. Und schon sind wir Gäste dieser Familie. Schnell wird ein Kohlkopf aus dem Garten geholt und eine leckere Kohlsuppe gekocht. Der Kräuterlikör auf dem Tisch ist unser Gastgeschenk. - Und dann das ganz und gar Unfassbare ...




Alex und ich müssen im Ehebett schlafen, während unsere Gastgeber im Wohnzimmer nächtigen - teils auf dem Sofa, teils auf dem Boden. Widerspruch  zwecklos! Am nächsten Morgen bekommen wir noch eine Tüte Pflaumen, ein paar Tomaten und ein Stück Speck mit auf den Weg. Es bestätigt sich mal wieder: je größer die Armut, umso größer auch die Gastfreundschaft.



Wir folgen nun schon seit Tagen dem Lauf der Mureș. Sie führt uns auf direktem Weg nach Transsilvanien (Siebenbürgen) hinein. Obwohl im Zentrum Rumäniens gelegen, leben hier vor allem Ungarn und eine deutschsprachige Minderheit: die Siebenbürger Sachsen. 






Alba Iulia (Karlsburg). Auch hier hat der "real ruinierende Sozialismus" sein Unwesen getrieben. Immerhin sind die Plattenbauten etwas besser in Schuss als in Arad. 



Richtig schön ist es dagegen in der Altstadt. In ihrer Mitte die relativ junge, im Jahr 1923 vollendete orthodoxe Dreifaltigkeitskathedrale und gleich daneben die aus dem 13. Jh. stammende römisch-katholische Kathedrale St. Michael. Hier wartet der nächste Gastgeber auf uns.

György Jakubinyi. In gewisser Weise auch ein Mitstudent, nur schon einige Semester weiter. Er hat wie ich im römischen "Collegium Germanicum et Hungarium" studiert und ist danach wieder in seine Heimat zurück gekehrt. Als wir uns treffen, ist er Weihbischof. 1994 hat ihn Papst Johannes Paul II zum Erzbischof von Alba Iulia ernannt. Dazwischen, am 9. Mai 1992, hat er mich in Rom zum Diakon geweiht.

Es gibt also einiges, das uns miteinander verbindet. Bereichernd ist die Begegnung mit ihm aber vor allem, weil er hervorragend deutsch spricht und uns auf sehr kundige Weise Einblick in die gesellschaftlichen  Verhältnisse Rumäniens gibt. Wir sprechen über die aktuelle Wirtschaftslage, über das Miteinander und Gegeneinander der verschiedenen  Volksgruppen, über das Verhältnis von orthodoxer und katholischer Kirche und deren beider Verhältnis zum Kommunismus. Dazu gibt's eine Flasche Messwein und (sic!) eine Tafel Schokolade. Es ist weit nach Mitternacht, als wir auseinander gehen.

Am nächsten Tag hätten wir dann eigentlich gerne diesen Herrn etwas näher kennen gelernt: Graf Dracula. Genauer: Vlad III Drăculea. Er soll um das Jahr 1413 in Sighișoara (Schäßburg) geboren worden und später Woiwode des Fürstentums Walachei gewesen sein. Seinen Beinamen Drăculea (Sohn des Teufels) habe man ihm aufgrund seiner Vorliebe für Hinrichtungen durch Pfählung gegeben. Diese Grausamkeit wiederum soll den irischen Schriftsteller Bram Stoker zu seiner Romanfigur Dracula inspiriert haben.

Wir fahren tatsächlich durch Sighișoara, haben aber keinen Blick für sein Geburtshaus. Denn Alex plagt sich schon seit zwei Tagen mit Durchfall und auch ich fühle mich nicht mehr im Vollbesitz meiner Kräfte. Noch dazu dringen wir nun in eine der ärmsten Gegenden Transsilvaniens vor: ins Land der Szekler. Die Straßen werden schlechter, die Hunde aggressiver, die Versorgung wieder schwieriger ...

Es fühlt sich wie auf einer Zeitreise an. Von Dorf zu Dorf geht es weiter in die Vergangenheit zurück. Die Dorfstraßen bestehen nun aus gestampftem Lehm, die Menschen sind mit Pferdekarren unterwegs, Gänse laufen frei herum.





Dabei sind die (ungarischstämmigen) Szekler ein Kulturvolk. Nur wurden sie vom rumänischen Staat jahrzehntelang unterdrückt. Deshalb konnte sich ihre Kultur (zu der neben einem eigentümlichen Dialekt vor allem die Schnitz- und Holzbaukunst zählt) mehr schlecht als recht am Leben erhalten.



Mit letzter Kraft erreichen wir Morareni, 700 m hoch am Rand der Ostkarpaten gelegen. Auf dem Bild kann ich schon wieder lachen. Aber die letzten Tage waren hart: Durchfall, Magenkrämpfe, Erschöpfung ... Mit etwas Verzögerung hat es auch mich ereilt. Die drei  haben sich rührend um uns gekümmert: Studienfreund Denes (2. v. l), der Pfarrer von Morareni und vor allem "Magdusmama", seine Haushälterin.




Penicilin, Kalium und Haferschleim bringen uns wieder auf die Beine. So können wir zumindest zwei schöne Ausflüge mit dem Auto unternehmen. Der erste führt uns tief in die Ostkarpaten hinein: zum Lacul Roșu (Roter See), einem durch Eisenoxide rötlich eingefärbten Bergsee, und zur Bicaz-Klamm, einer 10 km langen Schlucht, deren Felswände bis zu 300 m senkrecht in die Höhe ragen.



Ein zweiter Ausflug führt uns nach Brașov (Kronstadt). Wahrzeichen der Stadt ist die 1477 erbaute  "Schwarze Kirche", der bedeutendste gotische Kirchbau Südosteuropas. Dann die Frage: Wie geht's weiter? Da wir uns noch immer ziemlich schlapp fühlen und uns die Zeit etwas davon gelaufen ist, beschließen wir - anders als geplant - mit dem Zug zurück nach Ungarn zu fahren.




Leichter gesagt, als getan. Denn der Nachtzug, den wir nehmen, ist total verdreckt und hat kein Licht. Die Türen stehen während der gesamten Fahrt offen. Wir müssen unsere Räder in einer (ohnehin nicht benutzbaren) Zugtoilette verstauen und uns selbst in die Ecke eines völlig überfüllten Abteils hinkauern. Eine wahre Horrorfahrt! Über die Landesgrenze fährt der Zug nicht. Also in Oradea aussteigen, aufs Rad und nach 20 km im ungarischen Biharkeresztes in einen anderen Zug.



Budapest Ostbahnhof. Die Zivilisation hat uns wieder! Und es wartet schon Péter auf uns ...







Unsere Begegnung beginnt mit einem Fotoshooting für einen ungarischen Brillenhersteller. ;-) Scherz beiseite: sowas trug man damals. In Ost wie West.




Dann zeigt uns Péter seine Stadt: das Parlament, die Kettenbrücke, die Fischerbastei, die Matthiaskirche, das Gellért-Bad ... Zwei Tage Sightseeing, gutes Essen, weiche Betten, und wir sind wieder in der Lage aufs Rad zu steigen. Die Strecke von Budapest nach Sopron vergeht wie im Fluge. Da ich sie 1992 noch einmal in entgegengesetzter Richtung befahre, berichte ich davon an anderer Stelle.

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