Polen



Deutschland und Polen: das ist eine Geschichte des Krieges, der Besatzung, der Flucht und Vertreibung, aber auch der Versöhnung und des Neuanfangs. Ich habe mich gründlich eingelesen: Rudolf von Thadden, Christian von Krockow, Günter Grass ... und dann bin ich losgefahren. Im Frühsommer 2012.

Ich folge im Großen und Ganzen dem Ostseeküsten-Radweg. Von Stralsund bis Danzig. Die Städtenamen schreibe ich nur deshalb auf Deutsch, weil Namen wie Świnoujście oder Kołobrzeg für einen Nicht-Polen kaum aussprechbar sind. Strecke: 606 km. Höhenmeter: 1.602 m.


Die alte Hansestadt Stralsund begrüßt mich mit herrlichem Sonnenschein. Und mit ihrer wunderschönen Backsteingotik. Ich flaniere ein wenig durch die mittlerweile bestens sanierte Stadt und schwinge mich dann aufs Rad.


30 km Kopfsteinpflaster. Aber die zur Schnellstraße ausgebaute B 96 ist keine Alternative. Ich muss der alten Landstraße folgen, wenn ich zügig nach Polen kommen will. Da werden Erinnerungen an die DDR wach ...



Gut gerüttelt und geschüttelt lande ich in der nächsten Hansestadt: Greifswald. Vom Turm der Nikolaikirche habe ich einen herrlichen Blick auf das historische Stadtzentrum und den nicht weit entfernten Greifswalder Bodden.

Noch am selben Tag erreiche ich die Halbinsel Usedom und dort den kleinen Ort Peenemünde, bekannt vor allem durch die hier einst stationierte Heeresversuchsanstalt, in der die berühmt-berüchtigte V2-Rakete zur Einsatzreife entwickelt wurde.

Dann aber: die deutsch-polnische Grenze! Mit dem Vorderrad stehe ich bereits in Polen, mit dem Hinterrad noch in Deutschland. Kaum vorstellbar, dass es hier einst einen stacheldrahtbewehrten und verminten "Todesstreifen" gab, der zwei "sozialistische Bruderländer" voneinander trennte.

Gleich hinter der Grenze liegt Swinemünde (Świnoujście). Die kleine Stadt verbindet nicht nur Usedom mit Wolin, sondern auch die Ostsee mit dem Stettiner Haff. Sie hat einen schönen Kurbezirk, aber leider auch jede Menge hässlicher Plattenbauten.


Auf Wolin gibt es einen Nationalpark, in dem noch etwa 450 Wisente leben. Auch der Zubrowka ist hier zu Hause, ein mit "Wisent-Gras" aromatisierter Vodka, der in Polen zu jeder Tageszeit getrunken wird - zu erkennen an einem Grashalm in der Flasche.

Eines der Wisente habe ich immerhin erspäht. Die wild lebenden Tiere scheinen uns Menschen eher zu meiden. Aber vielleicht lag's auch nur am regnerischen Wetter ...

... das jedenfalls lässt mich den Nationalpark bald wieder verlassen. Denn die sandigen Böden sind dermaßen aufgeweicht, dass mein Schaltwerk schon nach wenigen Kilometern wie eine Pfeffermühle klingt.

Diese Kirche hier (bzw. das, was noch von ihr übrig ist) hat mal 2 km landeinwärts gestanden. In der zweiten Hälte des 15. Jahrhunderts. Durch ständige Unterwaschungen ist die Steilküste ihr immer mehr auf den Leib gerückt. 1874 musste sie geschlossen werden, 1901 stürzte sie ein.

Da ging es dieser hier besser, der Marienkirche von Treptow (Trzebiatów). Ihre mächtige Silhouette ist schon aus weiter Ferne zu sehen und diente bereits im Mittelalter als wichtiger Orientierungspunkt für alle, die sich auf dem Meer bewegten.

In Kolberg (Kołobrzeg) muss ich mich erstmal durch hässliche Plattenbausiedlungen wühlen, um ins historische Stadtzentrum vorzudringen. Das ist dann allerdings ganz attraktiv: mit einer Marienkirche aus dem 14. Jahrhundert, einer Seebrücke und einer ansprechenden Uferpromenade.

Der Ostseeküsten-Radweg, dem ich folge, ist in Polen längst nicht so gut ausgebaut wie in Deutschland. Oft verläuft er auf sandigen Single-Trails, nicht selten endet er vor einem Zaun oder einem anderen Hindernis. Aber ich kämpfe mich durch.

Dass Polen (noch) ein kreuzkatholisches Land ist, sieht man an nahezu jeder Ecke. Meist in Gestalt von Marienfiguren, die - mal mehr, mal weniger aufwendig in Szene gesetzt - den Weg flankieren.

Und auch er ist überall zu sehen: Karol Józef Wojtyła alias Papst Johannes Paul II. Er wird von den Polen wie ein Nationalheld verehrt. Hier in der Marienkirche von Rügenwalde (Darłowo). Ja, genau: da, wo die "Rügenwalder Mühle" steht.


Nächster Halt: Stolpmünde (Ustka). Ein schönes kleines Seebad mit zwei feinen Sandstränden. Doch zum Baden ist es leider zu kalt. Das Thermometer schafft es (Anfang Juni!) gerade mal auf 14 °C.

Es fühlt sich eher wie im April an: dunkle Wolken, starker Wind und ab und zu mal Sonnenschein. Die pommersche Landschaft profitiert davon. Immer wieder zeigt sie sich in einem anderen Licht.

Trotz des Windes komme ich gut voran. An diesem Tag schaffe ich 112 km und gönne mir zur Belohnung eine Nacht im Schlosshotel von Krockow (Krokowa), am Sitz des gleichnamigen Adelsgeschlechts.

Und dann kommt auch schon die Danziger Bucht in Sicht. Ich nähere mich ihr auf der Halbinsel Hel, die wie ein Arm in sie hineinragt, 36 km lang und teils nur 200 m breit. Ein Paradies für Segler und Kite-Surfer.

Von dort kann ich ganz entspannt mit einer Fähre nach Danzig übersetzen, ohne mich durch den ganzen Ballungsraum wühlen zu müssen. Wer diesen Weg wählt, landet unweigerlich auf der Westerplatte, einer der Stadt vorgelagerten Halbinsel, auf der bekanntermaßen der 2. Weltkrieg begann.

"Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen."  Alles weitere ist bekannt. Das Munitionsdepot, das damals als Erstes unter Beschuss genommen wurde, hat man gelassen wie es ist. Seitdem steht es als Mahnmal da.





Nicht weit entfernt liegen die Hafenanlagen, in denen ein friedlicher Umsturz seinen Anfang genommen hat. Durch Lech Wałęsa und die Solidarność, die Unterstützung des Papstes Johannes Paul II. und - nach Auffassung vieler Polen - auch durch das Wirken der Schwarzen Madonna von Tschenstochau.

Mein erster Blick auf die Danziger Altstadt. Aus dem 16. Stock eines Mittelklassehotels. Auch wenn sie nach dem Krieg komplett wieder aufgebaut werden musste, es sich also um historisierende Neubauten handelt, hat sie den Charme einen alten Stadt.

"Dunkle Giebel hohe Fenster, Türme tief aus Nebeln sehn. Bleiche Statuen wie Gespenster lautlos an den Türen stehn. Träumerisch der Mond drauf scheinet, dem die Stadt gar wohl gefällt, als läg' zauberhaft versteinet drunten eine Märchenwelt." (Josef von Eichendorff)

Märchenhaft wirkt Danzig auch ohne Nebel. Ich jedenfalls habe mich gleich in die Stadt verliebt und bin noch im selben Jahr wieder hin, um weiter nach St. Petersburg zu fahren - einmal durchs ganze Baltikum.

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