Normandie I




Die Grundfarbe dieser einwöchigen Tour im Juli 2017 ist das Grau. Das Grau des wolkenverhangenen Himmels. Das Grau der verwitterten Bruchsteinhäuser. Das Grau des alten Filmmaterials, das die Landung der Alliierten dokumentiert. Und hätte der mir stets entgegen wehende Wind eine Farbe besessen: es wäre ein dunkles Grau gewesen. Trotzdem eine schöne Tour durch eine kulturell sehr abwechslungsreiche und hochinteressante Region Frankreichs.



Meine Route. Von Pont Audemer zunächst ins recht hügelige Hinterland: über Èvreux, Alençon und Domfront zum Mont Saint Michel. Dann die Halbinsel Contentin hinauf bis zum Kap La Hague. Und schließlich entlang der Landungsstrände wieder zurück nach Pont Audemer. Am Weg vier wunderschöne alte Abteien und das schmucke Städtchen Bayeux. Kilometer: 859. Höhenmeter: 5.236.



Pont Audemer. Die einstige Gerberstadt im Tal der Risle hat trotz etlicher Kriegszerstörungen ihr altes, von Fachwerkhäusern geprägtes Erscheinungsbild bewahren können. Hier parke ich mein Auto und schwinge mich auf's Rad.



Schon nach 30 Kilometern das erste Highlight: die im Jahr 1034 gegründete Benediktinerabtei Notre Dame du Bec am Rande des Dorfes Hellouin. Die Abtei war über Jahrhunderte hinweg das geistige Zentrum der Normandie. Kein Geringerer als Lanfranc du Bec, der Lehrer des Anselm von Canterbury, war hier zuhause. Leider sind heute nur noch Gebäudeteile aus dem 15. und 18. Jahrhundert erhalten.



Weiter geht's auf einer "voie verte", einem der zahlreichen Bahntrassenradwege der Normandie. Ich mache nur mäßig Gebrauch von ihnen. Denn sie sind zwar schön grün und steigungsarm, auf die Dauer aber auch ziemlich monoton - zumal sie nur selten durch Ortskerne führen.



Das nächste Highlight: die Kathedrale von Èvreux. 13 Jahre lang wirkte hier Bischof Jacques Gaillot, bis ihn Papst Johannes Paul II. 1995 wegen seines politischen und sozialen Engagements gegen den Willen der Bevölkerung absetzte. Von ihm stammt das bekannte Wort "Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts".




Es geht weiter über eine Hochebene, die wenig Schutz vor dem strengen Südwestwind bietet, der mir den ganzen Tag entgegen bläst. Ab und zu eine Kirche, gelegentlich ein kleines Dorf. Es ist eine der strukturschwächsten Regionen Frankreichs.



In Dörfern wie diesen ist es gar nicht so leicht, sich mit Wasser und Lebensmitteln zu versorgen. Wenn es überhaupt einen kleinen Laden gibt, dann hat der nur sehr beschränkt geöffnet.




Hier habe ich Glück. In diesem kleinen Restaurant ist zwar sonntags nur die Bar geöffnet, doch Madame hat gerade für ihre Familie gekocht und erbarmt sich des hungrigen Radfahrers. Es gibt eine leckere Sülze mit Salat, einen Gemüseeintopf mit verschiedenen Fleischsorten - und natürlich Käse: Camembert, Pont-l’Évêque und Livarot. Das Ganze für gerade mal 10,50 Euro. In der Provinz ist Frankreich noch preiswert.

Die nächste Abtei: Abbaye de la Trappe. Sie entstand 1664 im Zuge einer radikalen Reform des Zisterzienserordens und gab den Trappisten ihren Namen. Die Klostergebäude sind für Besucher leider nicht zugänglich.




Nach einer strammen Tagesetappe von 120 km und 765 Höhenmetern bin ich in Alençon. Es ist die Geburtsstadt der hl. Therese von Lisieux. Ihr Elternhaus und die Kapelle, in der sie am 4. Januar 1873 getauft worden ist, ziehen heute viele Pilger an.



Ich muss zum ersten Mal meine Regenkleidung überziehen. Auf den Höhen rund um Alençon gehen einige kräftige Schauer nieder.



Erst am Abend beruhigt sich das Wetter wieder und es kommt sogar kurz die Sonne heraus. Ich bin in Domfront, einem schönen kleinen Städtchen mit einer recht eigenwilligen, byzantinisch anmutenden Betonkirche und einem ganz hervorragenden Bistrot (Le Bistrot St. Julien).




Der touristische Hotspot der Normandie rückt näher. Ich folge wieder einer "voie verte" ...




... und erreiche den berühmten Klosterberg schon am frühen Nachmittag. Anstatt in einem der gesichtslosen Hotels abzusteigen, die man ganz in der Nähe errichtet hat, habe ich mir ein kleines Landgasthaus ausgesucht, das mir diesen herrlichen Blick auf den Mont Saint Michel gewährt.



Nein, das ist nicht die Drosselgasse in Rüdesheim. Es ist die Grand Rue des Mont Saint Michel. Die gerade mal 300 Meter im Durchmesser große Insel wird alljährlich von mehr als 3 Millionen Pilgern und Touristen besucht. Das Gute: die meisten Touristen sind bequem und scheuen den Anstieg bis ganz hinauf auf den Klosterberg - zumal die Abteikirche nur begrenzt zugänglich ist. Man muss also nur etwas höher steigen, ...



... um den Rummel  hinter sich zu lassen und diese herrliche Aussicht genießen zu können. Gut zu erkennen ist die erst im Jahr 2014 fertiggestellte Stelzenbrücke, die zusammen mit einem modernen Gezeiten-Staudamm dafür sorgt, dass die Meeresbucht nicht weiter versandet und der heilige Berg eine Insel bleibt. Es herrscht gerade Ebbe. Bei Flut ist selbst die Brücke nicht mehr zu passieren, und man muss an Land oder auf der Insel bleiben.





Nach einem wohltuenden Abendgebet mit der Fraternité Monastique de Jérusalem, die das Kloster seit 1969 bewohnt, bin ich wieder zurück in meinem Quartier.



Am nächsten Tag ist der Himmel wieder grau verhangen. Ich umrunde die Baie du Mont, werfe einen letzten Bick auf den heiligen Berg und fahre dann weiter zur ...

... Abbaye de la Lucerne, einer Prämonstratenserabtei aus dem 12. Jahrhundert, die im Zuge der Französischen Revolution aufgelöst und dem Verfall preisgegeben wurde, seit 1959 aber wieder auf hervorragende Weise restauriert wird - von einem gemeinnützigen Verein.




Wie in fast jeder Kirche der Normandie steht auch hier ein Bild des Priesters Jacques Hamel, der am 26. Juli 2016 in Saint Ètienne du Rouvray bei Rouen von zwei islamistischen Attentätern enthauptet worden ist.




Zurück an der Küste, und wieder herrscht Ebbe. In Granville beträgt der Tidenhub, also der Unterschied zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Pegelstand, satte 14 Meter. 



Die letzte Abteikirche auf dieser Tour: Saint Trinité de Lessay. Sie gilt als der normannische Sakralbau schlechthin. Romanik in ihrer schönsten Form.



Dann wird es einsam. Die fast etwas irisch anmutende Halbinsel La Hague ist nur dünn besiedelt. Wohl der Hauptgrund dafür, dass hier die gleichnamige Wiederaufbereitungsanlage für Atommüll errichtet worden ist.
Kein Schild, kein Hinweis, nichts deutet darauf hin, was hier geschieht. Nur dass die gesamte Anlage mit Natodraht und Hochspannungszäunen gesichert ist, vermittelt dann doch ein etwas mulmiges Gefühl.


Kap La Hague. Der nordwestlichste Punkt Frankreichs. Ab jetzt sollte mir der Wind eigentlich gewogener sein. Aber wie das so auf einer Radtour ist ...

... mit einem Mal schwenkt er von Nordwest auf Süd und ich habe ihn wieder im Gesicht. Es geht über die eher unattraktive Hafenstadt Cherbourg zur recht schönen Ostküste des Contentin.

Besonders idyllisch: das Hafenstädtchen Barfleur. Hier wie auch im etwas weiter südlich gelegenen Saint Vaast la Hogue ...

 ... sind die Fischer nachmittags damit beschäftigt, ihren Fang auf die Ladentheke vorzubereiten.










Utah Beach. Am 6. Juni 1944 um 6:30 Uhr betraten hier die ersten amerikanischen Landungstruppen französischen Boden. Da sie auf weniger Widerstand als erwartet trafen, hatten sie bis zum Abend rund 23.250 Soldaten an Land gebracht.




Nur wenige Kilometer weiter östlich: Omaha Beach. Aufgrund der großen deutschen  Gefechtsbatterie am benachbarten Pointe du Hoc hatten es die Amerikaner hier wesentlich schwerer. Allein am D-Day starben an diesem Strand mehr als 3.000 Soldaten. Eine Metallskulptur mit dem Titel "Les Braves" (Die Tapferen) erinnert an sie. 

Dann der amerikanische Soldatenfriedhof bei Colleville sur Mer. 9.238 Marmorkreuze und 149 Davidsterne erinnern an einen Teil der Gefallenen. Die meisten von ihnen waren zwischen 17 und 20 Jahre jung. Auf einigen Grabsteinen stehen die Worte "Here rests in honored glory a comrade in arms known but to God". Ein Ort, der unter die Haut geht.


Und schließlich Arromanches. Hier haben die Alliierten bereits am Tag nach dem D-Day mit dem Bau des bis dahin größten künstlichen Hafens begonnen, der das Anlanden schwerer Waffen und Fahrzeuge ermöglichte. Von den mehr als hundert Betonhohlkörpern, die dazu aus England herangeschleppt und im Meer versenkt wurden, liegen immer noch einige im Meer und am Strand.



Nach so vielen bedrückenden Impressionen tut ein Abstecher ins Hinterland gut: Bayeux. Die lebendige Kleinstadt wartet mit einer gut erhaltenen Altstadt und zwei kulturellen Highlights auf: der Kathedrale, die schon von weitem zu sehen ist ...





... und der "Tapisserie", dem berühmten Wandteppich, der auf 70 Metern Länge und in 58 gestickten Einzelbildern die Eroberung Englands durch den Normannenherzog Wilhelm der Eroberer dokumentiert.



Fast wie zum Hohn zeigt sich der Himmel am letzten Tag noch einmal in Blau. Und ich habe doch tatsächlich für ein paar Stunden Rückenwind. Entlang der Côte Fleurie (Blumenküste) mit ihren mondänen Seebädern Cabourg, Houlgate und Deauville geht's zurück nach Pont Audemer.

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